Das Bundesverwaltungsamt (BVA) übermittelt anlasslos Daten zu kurdischen Vereinen an die Polizei und den Geheimdienst. Hintergrund ist ein Erlass des damaligen Innenministers Manfred Kanther (CDU) aus dem Jahr 1994, mit dem die ein Jahr zuvor in Deutschland verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verfolgt werden sollte.
Allerdings fehlt für diese bald dreißigjährige Praxis eine Rechtsgrundlage. Dies bestätigt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste im Bundestag, das die Linken-Abgeordnete Gökay Akbulut beauftragt hat. Gegenüber netzpolitik.org kommentiert Akbulut dies als „krassen Rechtsbruch und politisch unerträglich“.
Extra-Auskunft, wenn Verein „politisch“ ist
Vereine, deren Mitglieder oder Vorstand sämtlich oder überwiegend keine Bürger:innen von EU-Mitgliedstaaten sind, gelten in Deutschland als „Ausländervereine“. Nach § 19 des deutschen Vereinsgesetzes müssen sie persönliche Daten aller Vorstände oder entsprechend berechtigter Personen innerhalb von zwei Wochen bei den zuständigen Landesvereinsbehörden melden.
Die Bundesländer leiten die Informationen anschließend zur Speicherung im Ausländervereinsregister beim BVA in Köln weiter. Auch dies ist im Vereinsgesetz geregelt. Mit Stichtag 14. April zählt das Register 14.690 Gründungen.
Sofern die Vereine als „politisch“ gelten, müssen sie auf Verlangen der Behörden zudem Namen und Anschriften aller Mitglieder herausgeben. Dann besteht auch eine Pflicht zur Auskunft über die Tätigkeit des Vereins sowie die Herkunft und Verwendung ihrer finanziellen Mittel. Für dieses Auskunftsverlangen muss keine konkrete Gefahr erkennbar sein, es genügt dafür das Ermessen der Vereinsbehörde.
„Spontanübermittlung“ von Vorratsdaten
Die kurdischen Vereine unterliegen einer zusätzlichen Überwachung. Das BVA leitet ihre auf Vorrat gespeicherten Informationen als sogenannte „Spontanübermittlung“ an das Bundeskriminalamt (BKA) und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) weiter. Dort werden sie nach Auskunft des Ministeriums „mit dem Datenbestand der Sicherheitsbehörden abgeglichen“ und bei Bedarf behalten.
Diese anlasslose Weitergabe personenbezogener Daten ist ein Grundrechtseingriff, für den es eine gesetzliche Ermächtigung benötigt, betonen die Gutachter:innen der Wissenschaftlichen Dienste. Dies kann auch durch den Kanther-Erlass von 1994 nicht umgangen werden, denn bei diesem handele es sich um „bloßes Binnenrecht der Verwaltung“.
Hinzu kommt, dass der Erlass auch nicht mehr rechtlich überprüft werden kann. Denn beim Bundesinnenministerium ist das Dokument verschwunden, wie der Innenstaatssekretär Mahmut Özdemir (SPD) der Abgeordneten Akbulut jüngst mitgeteilt hat.
BKA- und Verfassungsschutzgesetz genügen nicht
Als Rechtsgrundlage für die Übermittlung an den Inlandsgeheimdienst sieht die Bundesregierung unter anderem das Verfassungsschutzgesetz des Bundes. Den Wissenschaftlichen Diensten zufolge genügt dies jedoch nicht. Zwar soll das BVA ohne Aufforderung bestimmte Informationen an den Geheimdienst übermitteln, etwa wenn dem Amt sicherheitsgefährdende Tätigkeiten bekannt werden. Hierunter fiele etwa die Mitgliedschaft in der 1993 verbotenen PKK oder etwaigen Tarnorganisationen.
Jedoch müsste das BVA in jedem Einzelfall vor der Weitergabe der Informationen an das BfV feststellen, ob solche Bestrebungen als Tatsachen erkennbar sind. In den „Spontanübermittlungen“ erfolgt dies aber regelmäßig nicht.
Ähnlich fragwürdig ist die Weiterleitung an das BKA, die das Innenministerium auf das BKA-Gesetz gründet. Auch hier braucht es aber tatsächliche Anhaltspunkte für Straftaten, schreiben die Wissenschaftler:innen des Bundestages. Die bloße Gründung eines kurdischen Vereins kann hierfür nicht genügen.
Prüfung, ob Erlass aus 1994 „dem aktuellen Bedarf entspricht“
In dem Gutachten zitieren die Verfasser:innen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bestandsdatenauskunft vom 27. Mai 2020, in dem von einem „Doppeltürmodell“ die Rede ist. Demnach braucht es für derartige Informationsflüsse unter Behörden jeweils eine Rechtsgrundlage für die Abfrage sowie die Übermittlung. „Erst beide Rechtsgrundlagen gemeinsam, die wie eine Doppeltür zusammenwirken müssen, berechtigen zu einem Austausch personenbezogener Daten“, heißt es in dem Gerichtsbeschluss.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Akbulut schrieb auch das Innenministerium Ende April, es werde geprüft, „inwieweit der diesbezügliche Erlass aus dem Jahre 1994 noch dem aktuellen Bedarf entspricht“. Als Begründung wird jedoch nicht die fehlende Rechtsgrundlage genannt. Die „Datenübermittlungen zu Ausländervereinen“ genügten nicht mehr den „datenschutzrechtlichen Anforderungen“, heißt es in der Antwort.
Aus den Zahlen der letzten Jahre ist indes kein Rückgang der „Spontanübermittlungen“ erkennbar. 2021 wurden 75 kurdische Vereine vom BVA an Polizei und Geheimdienst gemeldet, ein Jahr zuvor waren es 90, für 2019 wird die Zahl mit 44 angegeben.
Mögliche Weitergabe an türkische Geheimdienste
Akbulut weist auf ein weiteres Problem hin. So ist es angesichts der deutsch-türkischen Sicherheitszusammenarbeit denkbar, dass die Daten aus dem Ausländervereinsregister direkt oder indirekt auch an türkische Geheimdienste weitergegeben werden. „Aus Gründen des Staatswohls“ will das Innenministerium hierzu aber keine Auskunft erteilen. Es ist also möglich, dass erst die Informationen aus Deutschland für einen Verfolgungswillen türkischer Behörden sorgt.
Auch das Bundesinnenministerium weiß um diese Repression gegen kurdische Bewegungen in der Türkei. Besondere Vorkehrungen werden deshalb aber nicht getroffen. Vielmehr heißt es in der Antwort auf die Kleine Anfrage, die Mitglieder „in einem in Deutschland legal tätigen Verein mit Bezug zu kurdischen Anliegen“ sollten die allgemeinen Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes für die Türkei beachten.
„Dass die Bundesregierung das Erdogan-Regime mit der Datenweitergabe dabei unterstützt, Oppositionelle zu verfolgen, ist ein absoluter Skandal“, kommentiert Gökay Akbulut. „Diese Geheimdienstkooperation mit der Türkei muss umgehend gestoppt werden.“
Und warum wurde von der EU die Türkei bisher nicht ebenso mit Sanktionen beleget wie Russland?
Die Türkei macht mit den Kurden nichts anderes als die Russen mit der Ukraine!
Das ist Blödsinn.
Bei Russland/Ukraine geht es um nichts anderes als um (einseitige) Grenzverschiebungen aufgrund (vermeintlich) ethnischer Zugehörigkeit und „historischen Ansprüchen“. Das hat Hitler genauso gemacht (Österreich, Sudetenland/Böhmen, Memel, und dann der polnische Korridor = Weltkrieg).
Die Türkei wurde in den aktuellen Grenzen gegründet. Bisher wurden keine fremden Gebiete (z.b. in Nord-Syrien) offiziell annektiert. Auch wenn ich es für sehr wahrscheinlich halte, dass das noch kommen wird. Aber man kann eben nicht sanktionieren bevor nicht ein Grund eingetreten ist.
Dass die Türkei keinen Wert auf Menschenrechte legt wenn es um die Kurden im eigenen Land geht ist kein Geheimnis. Aber es ist eben nicht so, als ob die Türkei in den letzten Jahren/Jahrzehnten einen kurdischen Staat erobert und annektiert hätte. Der diplomatische Status Quo ist also das was in internationalen Angelegenheit zählt.
Mit ein bisschen Nachdenken sollte man also erkennen, dass es überhaupt nicht das gleiche ist.
Phantom-Schmerzen sind, wenn etwas weh tut und nicht mehr da ist. So angeblich geschehen mit einem „Kanther-Erlass“ aus dem Jahr 1994. Oder war es doch 1993?
Da stellt sich doch gleich die Frage, wie oft so etwas vorkommt und ob dieses Verschwinden ähnlich gelagert ist wie andere.
Wieviele Exemplare von diesem Erlass gibt es denn? Und wo sollten sie denn üblicherweise zu finden sein?
Wer hat ausgeliehen und nicht mehr zurück gebracht? Wirklich überall ein Schwund?
Berührt dieser Erlass nicht auf seltsame Weise angeblich das Staatswohl der Bundesrepublik? Nachtigalle ick hör dir tapsen … ist das jetzt praktisch, dass der futsch ist?
Hört die Journalistenehre dort auf, wenn man titeln konnte „Der unauffindbare Erlass“? Habt ihr schon mal am Gitter des Barbara-Stollens gerüttelt?
Wie viele Strafanzeigen gibt es, weil die Sneaker futsch sind? Wurde der Erlass geklaut? Und nu … Axel zuckt?
Auf welche Art von Rechtsstaat steuern wir zu, wenn schon ganze Erlasse verschwinden, wenn es das Staatswohl mal so braucht?
Und sowieso, warum hagelt es da jetzt keine Dienstrechtsbeschwerden, weil die BVA und nachgeordneten Behörden sich offensichtlich auf Phantasie-Erlasse berufen und damit ihr eigenes Recht schaffen?
Es ist ja sowieso alte deutsche Beamtentradition Grundrechte mittels Verwaltungsrecht zu umgehen. Bisher hielt man sich jedoch zu Gute am Ende der Entscheidungskette einen Beamten auf Zeit (Polititesse™) zu haben, dessen Schuldigkeit sich mit seiner Abwahl zu erledigen gehabt zu haben hat, wenn nötig.
Als möglicherweise betroffenener dessen daten in die hände türkischer geheimdienste gelangt sein könnten ist alleine das mauern aus „staatswohl“ ein schlag ins gesicht.
evtl. werde ich mal klären inwieweit ich auskunft über den vorgang mich betreffend erstreiten könnte.
Ich wünsche dir viel Glück im Kampf gegen die Windmühlen.
Dann ist ja jetzt den Verantwortlichen die unwiederbringliche Löschung der Daten in Verbindung mit einer eidesstattlichen und damit strafbewehrten Versicherung über den Vollzug der Löschung abzuverlangen.
Aber da wird wohl eher die Hölle einfrieren …
Bezüglich des Verbleibs des Kanther-Erlasses aus dem Jahr 1994 kann der ehrenwerte Stephan Mayer (CSU) weiterhelfen. In seiner damaligen Funktion als Staatsekretär im BMI unter Horst Seehofer beantwortete er am 25.09.2019 bereitwillig Fragen von Abgeordneten des Deutschen Bundestags im Rahmen einer parlamentarischen Fragestunde, in gebotener Knappheit. Auf die Frage des Abgeordneten Dr. André Hahn antwortete er u.a. „Grundlage der Übermittlungspraxis in Bezug auf Kurdenvereine ist ein Erlass des BMI von 1994.“ Herr Mayer ist bekannt für sein entgegenkommendes Verhalten gegenüber Journalisten und dürfte gerne Auskunft geben über den physischen Verbleib des vermissten Erlasses, zumal ihn sein Ministerium seinerzeit intensiv genutzt hat, was ohne genaue Textkenntnis kaum vorstellbar ist.
Die Unauffindbarkeit des Kantherischen Runderlasses ist indes keine Petitesse, zumal der Inhalt solcher Erlasse Betroffenen vollumfänglich zur Kenntnis gebracht werden muss.
Die Umstände der Unauffindbarkeit müssen sorgfältig ermittelt werden, denn der Eindruck des opportunen Verschwindens ist entstanden. Dies berührt das Vertrauen in den Rechtsstaat und in seine Organe in empfindlicher Weise.
Das BMI wäre gut beraten, die Angelegenheit des Verschwindens nicht einfach nur als Papierschwund stehen zu lassen, denn die Frage, wer von dem Verschwinden politischen Nutzen zieht steht ebenso im Raum, wie der Verdacht, dass mehr als nur Zufall am Werk war.
Das ist ein Rechtsstaat im 22. Jahrhundert.
Hätte mal jemand rechtzeitig erklären sollen, dass das so nicht geht…
Anlasslose Übermittelung an irgendwen, und dann noch an externe Dienste… dass das noch Gerichtsstunden kostet…
Keine externen Dienste!
Gemäß Indinanerehrenwort, jedenfalls. Denn immerhin sind die kontexttragenden Dokumente zufällig irgendwie verschwunden. Das muss jene sagenumwobene IT-Lücke im Hirn des Deutschen sein.